Was passiert eigentlich mit einer Bewegung, die sich plötzlich irgendwo in der Mitte der Gesellschaft wiederfindet, nachdem sie aus dieser vorher im Wesentlichen Ablehnung erfahren hat - und dementsprechend diese auch abgelehnt hat? Wie geht diese Bewegung mit der Verfolgung anderer (Minderheiten) um, nachdem sie nun einen vergleichsweise sicheren Status erreicht hat? Wie war das noch gleich mit Intersektionalität, also der Überschneidung verschiedener Diskriminierungsformen?
Was haben
Queer und (Anti-)Kapitalismus miteinander zu tun?
Die "Erfolgsgeschichte" der bürgerlichen Homo-Emanzipation in den westlichen Industriestaaten während der letzten Jahrzehnte fällt mit der neoliberalen Transformation der Weltwirtschaft zusammen. Während vor allem weiße schwule Männer Freiheitsgewinne verbuchen, kommt es zu einem entsolidarisierenden Umbau der Gesellschaft, verbunden mit zunehmend rassistischen Politiken im Innern; zugleich dient der "Einsatz für Frauen- und Homorechte" als Begründung für militärische Interventionen im globalen Süden. Dabei waren es schon 1969 in der New Yorker Christopher Street "[S]chwarze und Drag Queens/Transgender of colour aus der Arbeiterklasse", die den Widerstand gegen heteronormative Ausgrenzung und Gewalt trugen und "sich in Abgrenzung zu weißen Mittelklasse-Schwulen und [-]Lesben 'queer' nannten, lange bevor deren akademische Nachfahren sich diese Identität aneigneten" (Jin Haritaworn). Doch auch hierzulande sind es die queer People of Color, die aktivistisch wie theoretisch gesamtgesellschaftliche Perspektiven jenseits des gängigen Homonationalismus entwickeln.
Im Band "Queer und (Anti-)Kapitalismus" betrachten Voß und Wolter sehr kritisch die Ansätze einer 'queer-feministischen Ökonomiekritik' vor dem Hintergrund queerer Bewegungsgeschichte. Sie zeigen mögliche Verbindungen zum 'westlichen Marxismus' Antonio Gramscis, zum postkolonialen Feminismus Gayatri Chakravorty Spivaks, zu den "Eine-Welt"-Konzepten von Immanuel Wallerstein und Samir Amin auf. Wegweisend ist dabei für die beiden ein intersektionales Verständnis, wie es Schwarze Frauen und queere Migrant_innen in der Bundesrepublik bereits seit den 1980er Jahren erarbeitet haben. Dabei interessiert die beiden in dem Buch, wie Geschlecht und Sexualität - stets verwoben mit Rassismus - im Kapitalismus bedeutsam sind, sogar dort erst aufkommen oder funktional werden. Theoretisch, historisch und immer mit Blick auf Praxis untersuchen sie die Veränderungen der Geschlechter- und sexuellen Verhältnisse der Menschen unter zeitlich konkreten kapitalistischen Bedingungen. Wem nützen die geschlechtlichen und sexuellen Zurichtungen der Menschen im Kapitalismus, und was lässt sich aus den historischen und aktuellen Kämpfen für queere Kapitalismuskritik lernen?
Über die Autor*innen
Salih Alexander Wolter engagiert sich aktivistisch und publizistisch gegen Rassismus und für eine linke Queerpolitik.
Heinz-Jürgen Voß ist Professor für "Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung" an der Hochschule Merseburg. Er ist antirassistisch und queer-feministisch politisch aktiv und arbeitet u. a. zu Queer und Kapitalismuskritik und zu biologisch-medizinischen Geschlechtertheorien.